Aktionismus statt Visionen?
Föderalismus und KI
Wenn man sich bei kritischen Gedanken zu Auswirkungen des Föderalismus ertappt, geht es ans vermeintlich Eingemachte. Der Föderalismus ist im Grundgesetz verankert und es gibt kaum einen politischen Pfeiler, ein Gestaltungsprinzip, das uns heiliger ist. Die Ablehnung eines Zentralstaates und die Pflege einer föderalen Struktur liegt dann auch dem Gebilde EU zugrunde. Das Subsidiaritätsprinzip zieht sich durch die meisten gesellschaftspolitischen Bereiche. Und spätestens seit der Pandemie konnte man den Macht- und Gestaltungsanspruch der Bundesländer so deutlich sehen wie selten in den Jahrzehnten davor. Und weiter bis in jeden Landkreis und jede Kommune. Und trotzdem kann einem von Zeit zu Zeit der kecke Gedanken kommen, dass der Föderalismus in Krisenzeiten und bei manchen Zukunftsthemen, die Visionen und ein gemeinsames, gesellschaftliches Verständnis brauchen, nicht unbedingt seine Stärken zu zeigen vermag.
Doch es kommt schlimmer. Der Autor dieses Debattenbeitrags hat einen Verdacht. Eine gewagte These mithin, die sich mir immer dann verstärkt aufdrängt, wenn wir über Zukunftsthemen wie Digitalisierung sprechen. Das Neuland. Die notwendigen Weichenstellungen für unser Land und unsere Wirtschaft. Und ja, auch wenn wir über Künstliche Intelligenz brainstormen. Könnte es sein, dass wir zu klein denken, zu kurz springen, zu befreit von Visionen? Dafür mit einem Heer an föderalen Gestaltern und ihren Armeen an Ideengebern. Gut so, rufen die einen – gemeinsam sind wir stark und in der Vielfalt liegt die besondere Stärke. Schnell bekommt man ein schlechtes Gewissen, ob der eigenen Zweifel. Die regelmäßig schlechten Nachrichten über Deutschlands Nachzügler-Rolle bei allem was die weite Welt der Digitalisierung angeht, sind zwar schon ebenso zur Gewohnheit geworden wie unsere ausbaufähigen Platzierungen bei europäischen Gesangs-Wettstreiten, aber ist das fair?
Internationale Führungsrolle in Sachen KI
Als Journalist und Beobachter der Digital- und KI-Szene erhält man tagtäglich eine Flut an Pressemitteilungen, Eventankündigungen und Award-Ausschreibungen, die eigentlich gar kein anderes Bild zulassen, als das einer innovativen Technologienation. Einer Nation im Driver Seat und mit hohem Tempo hin zur verdienten, internationalen Führungsrolle in Sachen KI. Täuscht dieser Eindruck? Kann es gar sein, dass wir einen Aktionismus beobachten. Mehr Schein als Sein?
In jungen Jahren habe ich mich Weltbürger genannt. Seit Kindertagen habe ich viel von dieser Welt gesehen und blicke auch heute -beruflich und privat- immer mit interessiertem Blick über den Tellerrand. In Länder, Regionen und Kulturkreise, die eine hohe Innovationsdynamik, eine Offenheit für technologischen Fortschritt und eine Vision haben. Und die Heimat bahnbrechender Erfindungen sind. Das ist gefühlt immer seltener Europa, gar Deutschland. Der Zukunftsforscher blickt immer gerne nach Israel. Der Makroökonom nach Estland und der Rest nach China oder in die Vereinigten Arabischen Emirate. Und selbstverständlich in die Vereinigten Staaten, die auch bei KI-Systemen wieder eine Führungsrolle einnimmt – zumindest, wenn es um Anwendbarkeit und globale Vermarktung geht. Wenn man die Erfolgsgeschichte des Silicon Valleys, der IT-Industrie allgemein in den USA, hinterfragt, wird oft das Risikokapital genannt – aber auch die etablierten Kooperationsstrukturen zwischen Behörden, Unternehmen und Forschungseinrichtungen. Und bei uns? Warum brauchen wir mehr als zwei Jahrzehnte für eine digitale Patientenakte? Warum hinken wir auch bei der Umsetzung des Onlinezugangsgesetz im europäischen Vergleich massiv hinterher? Und wird nun alles bei der Künstlichen Intelligenz anders, besser?
Die gute Nachricht ist, dass wir als Industrie- und als Wissenschaftsnation eine stolze Geschichte haben und wir uns da auch international nicht schlecht reden brauchen. Hinter vielen technologischen Erfolgsgeschichten stecken deutsche Wissenschaftlicher und Entwickler und die internationale Zusammenarbeit auf Wissenschaftsebene ist sicherlich sehr gut. Bei der Umsetzung in marktfähige Lösungen und der globale Vermarktung haben wir nach wie vor renommierte Weltkonzerne, aber sicherlich in der gesamten Bandbreite unsere frühere Poleposition verloren. Wir haben eine über viele Jahre gewachsene stärkere Zusammenarbeit zwischen Forschungseinrichtungen und Unternehmen. Und wir haben eine Flut an Fördertöpfen und staatlichen Programmen – im Rahmen des zulässigen. Woran liegt es also? Am Geld? Doch am Föderalismus? Aber den haben ja die USA und andere Länder auch – mit unterschiedlichen Ausprägungen. Und in anderen Ländern wird auch nur mit Wasser gekocht und gibt es auch Reibungsverluste -wenn man genauer hinschaut. Liegt es an der (fehlenden) Digitalpolitik oder an den als Bremsklötze wahrgenommenen Behörden?
Aus heiterem Himmel ist ChatGPT da
Genug der Fragen und quälenden Zweifel. Eine superschlaue Antwort darauf gibt es eben so wenig wie eine singuläre Ursache, einen gemachten Fehler oder einen einzigen Schuldigen. Die Künstliche Intelligenz hat so viel Potenzial, weltweit für dramatische Veränderungen in allen Aspekten des Lebens und der Wirtschaft zu sorgen, dass es nicht mehr darauf ankommt zu fragen, wer hierzulande damals das Neuland verschlafen hat. Es geht vielmehr um die Frage, ob wir nun in der kommenden Ära der KI richtig aufgestellt sind. Oder ob wir einfach so weiter machen wie bisher. Spoiler-Alarm: Der ansonsten immer optimistische Autor ist leicht besorgt. Denn dieses „weiter so“ bedeutet wieder eine Verteilung beachtlicher staatlicher Fördersummen mit der berühmt-berüchtigten Gießkanne auf alle etablierten Institutionen und Antragsteller, und das sind nicht wenige. Schön gleichmäßig, bis auch jedes Bundesland seine KI-Initiative hat und jede Einrichtung ihr KI-Excellence-Center. Der Wahrnehmungsschub für KI, im Bugwasser der Euphorie rund um ChatGPT, führt derzeit zu einer Flut an Initiativen, Projekten, Clustern, Awards und Events – die Stimmung ist prächtig wie lange nicht mehr, nur hat man wieder im Eifer des Gefechts zwei Gäste nicht zur Party eingeladen: Die Vision und die gesamtgesellschaftliche Debatte.
Zur Erinnerung: KI ist kein neues Thema. Je nach Betrachtungsweise wird hierzu seit Ende der Fünfziger Jahre gedacht, geforscht, debattiert und investiert. Auf Fachkongressen wurden schon vor vielen Jahren wichtige und relevante ethische und rechtliche Fragen aufgeworfen. Auch in Deutschland. Und natürlich beschäftigt das auch die Entwickler des EU AI Act. Doch in der breiten Gesellschaft und der populär-medialen Berichterstattung wurde dieses Thema, diese Notwendigkeit zur Vision, irgendwie mal wieder übersprungen. Aus heiterem Himmel ist ChatGPT da und Euphorie wie Skepsis arbeiten sich nun im klein-klein an diesen dedizierten Anwendungen ab – und jeder hat dazu eine Meinung. Aber was ist die unsere Vision – unsere gesellschaftliche Vereinbarung? Was denkt der Kanzler und unser Verkehrsminister? Auf Sicht fahren lautet, heute im Nachhinein, die Verklärung der föderalen Kakophonie während Corona. Auf Sicht fahren wird bei KI nicht funktionieren. Und ein Abwarten auf den EU AI Act und ein Verlagern der Debatte in den dann anstehenden Umsetzungsprozess ist ebenso wenig eine gute Idee. Wir haben seit 1998 ein Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, von dem der normale Bürger wenig sieht und hört. Kein Vorwurf, eine Feststellung.
KI-Strategie der Bundesregierung
„Weiter so“ bedeutet auch bei KI, dass die Bundesregierung wenig Gestaltungspielraum hat. Innenpolitisch sitzen die Bundesländer an allen wichtigen Schaltern. Bundesweite Infrastrukturmaßnahmen sind ebenfalls nach EU-Recht schwierig und Regulierungsthemen und rechtliche Rahmenbedingungen werden bevorzugt, und nicht aus dem schlechtesten Grund, in Brüssel vorangetrieben. Und ja, die Ampel-Regierung hat das Pech seit ihrem Antritt im Krisenmodus zu sein: Pandemie, Ukrainekrieg, Energieversorgung. Aber was wäre, wenn wir uns die Krisen wegdenken? Sähe dann die Bundesregierung ihre Aufgabe in der Formulierung, Festschreibung und Vermittlung einer langfristigen KI-Strategie Deutschlands? Bundesweit einheitlich und passgenau mit Europa.
Moment, wird nun der eine oder andere Leser sagen: Das wird doch längst gemacht! „Die Bundesregierung forciert mit ihrer Nationalen Strategie den Weg von Künstlicher Intelligenz Made in Germany an die Weltspitze!“. Soweit die gute Nachricht der Bundesregierung. Und weiter: „Die KI-Strategie für Deutschland entstand in einem umfassenden demokratischen Prozess. Viele Experten beteiligen sich daran. Mit Mut und Gestaltungswillen und immer mit dem Fokus auf eine künstliche Intelligenz im Dienste und zum Wohle der Menschen!“ Die Freude steigt, doch wie geht es weiter? Wie lautet die Strategie und die Vision? „Die Nationale Strategie Künstliche Intelligenz der Bundesregierung gibt vor dem Hintergrund der dynamischen Entwicklungen der Technologie die wesentlichen Rahmenbedingungen vor. Die KI-Strategie ist als lernende Strategie angelegt, dies es kontinuierlich gemeinsam durch Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft neu zu justieren gilt.“ Das klingt schon wieder ein wenig nach der berühmten Fahrt auf Sicht. Und nach vielen anstehenden runden Tischen. Aber so funktioniert Demokratie und so funktioniert Föderalismus.
Digitalministerium auf Bundesebene?
Fakt ist, dass sich die Bundesregierung natürlich der Bedeutung von KI bewusst ist und das es viele Anstrengungen gibt. Und viele beratende Forschungseinrichtungen. Das schon erwähnte DFKI, dann BIFOLD und MCML, vertreten durch die Universitäten in Berlin und München, LAMARR von der Frauenhofer Gesellschaft sowie SCADS.AI und TUE.AI von den Universitäten in Dresden und Tübingen. Und ja, es gibt die „Strategie Künstliche Intelligenz der Bundesregierung“, initial aus dem Jahr 2018 und mit deutlich detaillierterer Fortschreibung seitens der Ampel, und eine 300-Seiten starke, aktuelle, Stellungnahme des Ethikrats. Und es gibt sogar bereits eine „Deutsche Normungs-Roadmap Künstliche Intelligenz“ von DIN und DKE. Und es gibt unübersehbar viele Innovationswettbewerbe, meist mit dem Siegel und unter der Schirmherrschaft eines Bundes- oder Landesministeriums oder einer oder eines KI-Beauftragten. Ist es da fair von Aktionismus zu sprechen und mangelnde Visionen vorzuwerfen? Sicher nicht, aber es ist trotzdem erschreckend, dass alle diese Aktivitäten, alle diese Anstrengungen und klugen Gedanken, seit Jahren deutlich weniger Aufmerksamkeit bekommt als derzeit ein Chatbot. Und dass medial derzeit gerne über offene Briefe und Warnungen von KI-Experten gesprochen wird, wozu sich dann wieder jeder in Position bringt, aber die klare deutsche Strategie oder Vision -auch für die Arbeitswelten der Zukunft- bleiben diffus. Manche KI-Beauftragten in den Ländern oder Landesminister sind in diesem gesellschaftlich relevantem Thema lautstärker als der Verkehrsminister oder die Bundesregierung.
Die Vielfalt der Maßnahmen, Initiativen, Cluster und Fördertöpfe kann als Stärke gesehen werden oder wieder Angst vor einem föderalen Flickenteppich machen. Eine klar, greifbare deutsche Strategie mit langfristig gültigen Paradigmen kann dann die Länder beflügeln in einen konstruktivem Wettstreit, um die besten Ideen und Umsetzungen einzutreten. Aber wir brauchen keine individuelle bayerische KI-Strategie oder eigene Strategien für NRW oder Baden-Württemberg. Oder die restlichen Länder. Oder doch? Hängt es demnächst wieder vom Wohnort oder Bundesland ab, wie mit KI und Digitalisierung in Behörden und Schulen umgegangen wird? Teilweise von Landkreis zu Landkreis, von Kommune zu Kommune. Das kann und wird kaum erfolgreich sein. Braucht es nicht doch ein dediziertes Digitalministerium auf Bundesebene? Die Diskussion ist nicht neu und die Antwort kann sicher lauten – nicht zwingend. Das Thema KI betrifft so viele Ressorts und so viele gesellschaftliche Aspekte, dass die Bündelung in einem Ministerium vielleicht sogar bremsen würde. Aber es würde vermutlich der, offensichtlich vorhandenen, deutschen KI-Strategie der Bundesregierung ein lauteres Sprachrohr geben als der derzeitige vielstimmige Chor an Beratern, Experten, Institutionen und Politikern, die alle natürlich auch immer eigene Interessen haben. Es braucht zumindest den hör- und sichtbaren Moderator auf Regierungsebene. Vielleicht auch die stärkere Thematisierung durch den Kanzler.
Die große Stärke des Föderalismus
Die Vorteile des Föderalismus sind sicher Experimentierfreudigkeit, Anpassungsfähigkeit und die Vielfalt an Lösungen. Die Nachteile dagegen sind die Koordinationsprobleme und die Fragmentierung. Er kann leicht zu regionalen Ungleichheiten führen und durch erhöhten Abstimmungsbedarf auch zu Wettbewerbsnachteilen. Mit Sicherheit ist der Föderalismus nicht „schuld“, wenn wir das proklamierte Ziel der KI-Weltspitze nicht erreichen. Wir müssen vermutlich nicht unsere demokratische Architektur über Bord werfen und unsere Gestaltungprinzipien, als eher den Umgang damit, der oft in den letzten Jahren an Kleinstaaterei erinnerte. Und die begleitende Kommunikation leidet unter der wenig koordinierten Vielstimmigkeit. Die Vielfalt der Lösungen ist die große Stärke des Föderalismus, kann aber auch seine Schwäche sein, wenn bei der Vielfalt nicht die Kreativität im Vordergrund steht, sondern dass möglichst viele Gestalter eine eigene Rolle, eine weitere Initiative, einen weiteren Wettbewerb oder den hundertsten Cluster wollen.
KI-Strategie der Bundesregierung vom 15.11.2018 | |
Fortschreibung KI-Strategie vom 01.12.2020 | |
Stellungnahme Ethikrat vom 20.03.2023 |
Wir werden hier im ChatGPT Expertenforum kontinuierlich verschiedenen Aspekten der Debatte Raum geben - mit Gastautoren aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Und wir werden die lebendige Weiterentwicklung der KI-Strategie der Bundesregierung und die News zum EU AI Act begleiten. Themenvorschläge und Feedback sind der Redaktion immer willkommen.