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Das KI-Jahr 2023 im Rückblick
Oliver Schwartz Sonntag, 24. Dezember 2023 von Oliver Schwartz

Das KI-Jahr 2023 im Rückblick - Ein Kommentar

Faszination ersetzt keine Strategie

Das Jahr 2023 war das Jahr der Künstlichen Intelligenz. Mal abgesehen von Kriegen, Konflikten und vielen schlechten Nachrichten. Zumindest, wenn es um die breite Aufmerksamkeit für KI geht. Und auch im Hinblick auf eine Debatte um eine notwendige Regulierung. Was fehlt ist jedoch eine kommunizierte politische Strategie, wie wir die Künstliche Intelligenz zum Wohle der Gesellschaft nutzen werden und wollen und das Bestreben für die dafür notwendigen Weichenstellungen einen Konsens zu erzielen.

Eine politische Verständigung in Europa gab es zumindest dahingehend, was die Künstliche Intelligenz nicht darf und nun wird fleißig an den Gesetzes-Details gearbeitet, damit der EU AI Act noch in dieser Legislatur vom Europaparlament und dem Europäischen Rat verabschiedet werden kann. Dies ist ein Erfolg und wer mehr über die Hintergründe und Details erfahren und einen Blick hinter die Kulissen werfen möchte, dem sei das Turtlezone-Podcast-Interview mit Kai Zenner empfohlen.

2023 war das Jahr von ChatGPT und im Zuge des Marketingerfolgs des innovativen ChatBots von OpenAI konnten wir erleben wie gefühlt jeden Tag dutzende neue, vermeintlich intelligente, KI-Lösungen das Licht der Welt erblickten. Und auch viel Schall und Rauch. Denn anscheinend wird heute jedes, aber auch wirklich jedes halbwegs smarte Technologieprodukt und jede Software mit dem Marketing-Label „powered by AI“ versehen. Und wir konnten gerade im Bereich der generativen KI beeindruckende, geradezu faszinierende, Fortschritte bei Midjourney & Co. erleben. Was noch vor Jahren ein großes Profiteam und ein Shooting-Budget im sechsstelligen Euro-Bereich bedingt hätte, lässt sich heute per Prompt in wenigen Anläufen vom Schreibtisch aus kreieren. Faszinierend und erschreckend.

Mangelt es nur an der Kommunikation?

Ich persönlich neige bei aller Faszination zum Schrecken. Nicht wegen der Technologie, sondern wegen der brutalen Disruption, die Generative KI in Kreativberufen bewirken wird. Denn jedem, aber wirklichem jedem, Jubel-Kommentar haftet diese Mischung aus kindlicher Freude über ein Zauberwerkzeug und gleichzeitig Geringschätzung von Talent an: „Ich kann zwar nicht schreiben, fotografieren, filmen oder komponieren – aber ich habe für wenige Dollar Subskription meine KI-Geheimwaffe. Endlich brauche ich keine (teuren) Lichtbildkünstler, Videografen, Grafiker, Autoren oder Komponisten mehr!“.

Ist dieser Eindruck böse überspitzt? Im Einzelfall vielleicht. Und dem Nutzer sei diese verständliche Freude und Faszination auch gegönnt. Kritischer sehe ich die Vermarktung und Positionierung der einzelnen Tools. Hier wird quer durch die Bank gar nicht erst versucht, Kreative als Kunden zu gewinnen, sondern im Marketing das hohe Lied der Disruption gesungen. Und wir reden bei der Generativen KI ja nur von der Spitze des Eisbergs. Ist die Künstliche Intelligenz also perspektivisch eher Chance oder eher Gefahr? Genau zu dieser Frage fehlt die, eingangs schon reklamierte, politische Vision, eine Strategie und ein gesellschaftlicher Konsens. Oder mangelt es nur an der Kommunikation?

Rechtssicherheit ist wichtig - gerade für Startups.

Im Jahr 2023 konnten wir mit ChatGPT und einem dialogbasierten ChatBot zum ersten Mal eine breitenmarkttaugliche KI-Anwendung bestaunen, eine hohe Weiterentwicklungs-Dynamik erleben und dann doch plötzlich erschreckt Headlines lesen wie „Wird ChatGPT dumm?“. Die Reproduzierbarkeit der generierten Ergebnisse blieb volatil und die Stellschrauben hinter den Kulissen intransparent. Nicht jeder Iterationsschritt bedeutete auch eine echte Weiterentwicklung. Es wurde hinter den Kulissen viel experimentiert und auch im Hinblick auf die Rechenleistungs-Effizienz optimiert. Denn der Betrieb ist ressourcenfressend und teuer. Auch bei Midjourney kann man sicherlich stundenlang unter Experten darüber streiten, ob der Fotorealismus der neuesten Version 6 nun besser oder ansprechender ist. Ob hier wirklich ein technologischer Quantensprung passiert ist oder nur an Stellschrauben gedreht worden ist, bleibt unklar. Klar ist jedoch, dass die generierten Ergebnisse von erfahrenen Usern mittlerweile so täuschend echt aussehen, dass selbst Profis zweimal hinschauen müssen, um die KI-Urheberschaft zu identifizieren. Spätestens hier wird eine Pflicht zur deutlichen Kennzeichnung essenziell.

Und wir konnten 2023 ein Schaulaufen der Lobbyisten erleben, die aus Sorge um die bevorstehende Regulierung der Künstlichen Intelligenz am liebsten Werte wie das beinahe global geltende Urheberrecht über Bord werfen wollten und wollen. Das erinnert an Wild-West-Marnieren wie zu Napster-Zeiten mit Musikportalen oder in der Anfangszeit von UBER. Natürlich kommt es erst einmal gut an, wenn man davon spricht, dass die Innovationskraft von Startups gefährdet seien und dass das Urheberrecht ohnehin antiquiert sei und nicht mehr zeitgemäß für die digitale Welt. Und klar, niemand wünscht sich zwingend weitere Verwertungsgesellschaften und noch mehr Bürokratie-Overhead. Aber ist dies ein Freibrief um im großen Stil fremdes geistiges Eigentum oder kreative Leistungen zu „stehlen“ oder zumindest ohne Genehmigung und Honorierung für die Trainingsdaten zu nutzen? Gerade für Startups und kleinere Anbieter ist vielmehr Rechtssicherheit wichtig. Das Urheberrecht ignorieren und in Frage stellen dagegen die großen Anbieter mit Milliarden in der Kriegskasse. Auch für Rechtsstreitigkeiten.

Gemeinsame gesellschaftliche Vision und Strategie entwickeln

Zurück nun zur Politik. Kennt jemand eine Strategie der Bundesregierung oder des Bundeskanzlers zur Künstlichen Intelligenz? Diese Frage ist kein Politik-Bashing und keine Polemik, sondern ernstgemeint. Natürlich erleben wir Anstrengungen der verschiedensten Ressorts in Sachen Forschungs-Förderung, Standort-Förderung oder Startup-Förderung. Die Zahl der Initiativen und Fördertöpfe ist riesig. Hinzu kommt in der Föderalen Struktur ein zum Teil kleinstaatlich anmutender Wettbewerb der Bundesländer. Die Regulierung hat die EU übernommen und in der jahrelangen Debatte und politischen Abstimmung waren die deutschen Bundesregierungen auffällig still. Was gibt es nun zu kritisieren? Kaum ein Bundesminister, der nicht täglich zumindest einen Termin mit KI-Kontext im Kalender hat und das Thema Künstliche Intelligenz auch regelmäßig in die politische Kommunikation integriert. Aber wer sind die Treiber? Wo ist die strategische Klammer? Die gemeinsame Vision? Vergleicht man die kommunizierten Zukunftsvisionen mit den Ethik-, Philosophie- und Rechts-Debatten von KI-Experten der letzten zwei Jahrzehnte, dann scheint wenig Substanz in der Politik angekommen zu sein. Das Bestreben, dass Deutschland (oder Europa) in Sachen Künstlicher Intelligenz eine führende Rolle einnehmen soll ist keine echte Vision unserer Zukunftsgesellschaft. Und das Bemühen, den Entwicklern und Betreibern gute Rahmenbedingungen zu schaffen ist löblich, ersetzt aber nicht die Definition, was wir uns als Gesellschaft für positive und (für die Menschen) gewinnbringende KI-Lösungen wünschen. Dies allein den Anbietern zu überlassen, führt genau zu der Flut an disruptiven Lösungen. Denn mit deren Marketingversprechen lässt sich im Markt am schnellsten monetarisieren.

Natürlich geht es nicht darum, zu fordern, dass die Politik deutlich stärker in den Markt eingreift. Aber bei einem Thema, dass für alle Menschen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten die größten und massivsten Veränderungen im Berufs- und Privatleben mit sich bringen wird, wäre es wichtig nicht nur mittels AI Act (der wichtig ist!) zu definieren, was künftig aufgrund eines untragbaren Risikos unzulässig ist, sondern auch eine gemeinsame(!) gesellschaftliche Vision und Strategie zu entwickeln. Denn KI bietet ja neben dem Risiko auch viele Chancen. Die sollten aber nicht dem Zufall überlassen bleiben. Der KI-Eisberg unter der Wasseroberfläche könnte größer sein als der damalige Eisberg „Internet & Digitalisierung“. Und die diesbezügliche, damalige Strategielosigkeit spüren wir noch heute. KI ist nicht erst mit ChatGPT vom Himmel gefallen. Die Neugierde und Faszination der Menschen für Generative KI in 2023 ist mehr als verständlich. Die Politik aber sollte aber längst weiter sein.

Mission Statement für das Abenteuer Künstliche Intelligenz

Wir kämpfen in vielen Segmenten immer noch mit der seit Jahren überfälligen Digitalisierung. Ein Beispiel ist auch das Gesundheitswesen und die permanenten Verzögerungen bei der Einführung einer digitalen Patientenakte. Gerade die Medizinbranchen sind aber eines der Segmente bei denen KI wirklich ein Segen sein kann. Schwer vorzustellen, derzeit, dass wir für diese -längst weit entwickelten- Innovationen bereit sind, wenn wir für eine Kleinigkeit wie die Patientenakte seit mehr als zwei Jahrzehnten diskutieren. Hier wird auch im internationalen Vergleich das Problem unseres föderalen Systems deutlich. Gesundheitsminister Lauterbach kann anstoßen und moderieren. Ohne die Länder gibt es keine Bewegung. Man kann sich drehen oder wenden, es fehlt die gemeinsame KI-Strategie.

2023 war, als versöhnliches Fazit, für alle technologiebegeisterten Menschen ein spannendes und faszinierendes Jahr und das ist auch mit dem „ChatGPT-Momentum“ zu verdanken. Für alle, die schon ein wenig älter sind, erinnert vieles an die aufregenden Momente bei der Einführung des Internets. Für 2024 würde ich mir aber eine Debatte wünschen, die sich löst von Tools und Features und die KI-Strategie im großen Rahmen in Angriff nimmt. Was ist unsere Vision, was unser gesellschaftliches „Mission Statement“ für das Abenteuer „Künstliche Intelligenz“. Sicherlich und hoffentlich mehr als Bildgenerierung mit Midjourney oder „AI-powered“ Eierkocher und Staubsauger auf einer IFA-Messe. Lieber Olaf Scholz, das ist durchaus eine Aufgabe die Führung braucht. In diesem Sinne: Auf ein spannendes 2024 mit vielen faszinierenden KI-Momenten und hoffentlich einer klareren Vision und Strategie, wie wir diese mächtige Technologie nutzen wollen.


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