Zuverlässige und schnelle Identifikation stärkt den Schutz der Ökosysteme
KI-Gesichtserkennung bei Meeresschildkröten
Wissenschaftler beobachten die Routen der Meeresschildkröten nicht nur für weitere Erkenntnisse zu Veränderung von Populationen und Verhaltensmustern der Arten, sondern auch um darüber Informationen zum Zustand des jeweiligen Ökosystems zu erhalten. Die Schildkröten dienen dabei als Indikator. Bislang war es jedoch sehr aufwändig und fehleranfällig die Tiere mit Sendern auszustatten. Dabei hat die Natur schon vorgesorgt: Jede Meeresschildkröte hat ein einzigartiges Gesichtsmuster, vergleichbar mit unseren Fingerabdrücken! In regionalen Forschungsprojekten werden diese Markierungen deshalb schon lange zur leichteren Re-Identifikation genutzt. Diese Methode setzt jedoch voraus, dass Wissenschaftler und lokale Helfer die Tiere für eine Zeitlang ruhig halten. Für eine überregionale Beobachtung der Schildkröten, die auf ihren zyklischen Reisen und Wanderrouten Entfernungen von tausenden Kilometern zurücklegen können, eignet sich eine manuelle Identifikation nur eingeschränkt. Das Arbeiten mit GPS-Sendern gilt als Goldstandard, der jedoch hohe Kosten verursacht und einen nicht unerheblichen Eingriff für die Tiere darstellt. Eine weitere Herausforderung ist der Datenaustausch und die Auswertung der Erhebung der zahlreichen regionalen oder überregionalen Forschungsprojekte. Denn nicht nur die Meeresschildkröten sind wahre Weltenbummler durch die Ozeane, auch die Zerstörung der wichtigen Ökosysteme und die Bedrohung durch zum Beispiel Plastikmüll sind keine lokal eingegrenzten Phänomene. Umso wichtiger ist die Indikator-Rolle der gepanzerten Langstreckenschwimmer.
Die Fähigkeiten der Künstlichen Intelligenz zur Gesichtserkennung werden daher schon in mehreren maritimen Forschungsprojekten getestet und genutzt. Die Idee ist dabei bestechend: Kamerabilder und Aufnahmedaten werden zum Trainieren der KI genutzt und dabei auf Niedrigschwelligkeit gesetzt. Die Anforderungen zum Erheben der Trainingsdaten sind ebenso gering wie beim Prozess der Re-Identifikation. Dies minimiert die Kosten und ermöglicht auch Arten- und Naturschützer in Entwicklungsländer zu partizipieren. In der Praxis kristallisieren sich dennoch mannigfaltige Herausforderungen: Die einzigartige Gesichtsmusterung der Meeresschildkröten erstreckt sich von den Wangen bis hin zur Kopfoberseite. Um mit einer Aufnahme oder im Livebetrieb eine möglichst exakte Identifizierung der gepanzerten Individuen zu ermöglichen, ist der Kamerawinkel wichtig. Und unter Wasser spielt die Klarheit und die Beleuchtung eine wichtige Rolle. Da die Schuppenmuster ein Leben lang gleich bleiben, ist die KI-Gesichtserkennung eine tolle Alternative zu herkömmlichen Methoden, wenn es um die eindeutige Wiedererkennung von zurückkehrenden Weibchen bei der Eiablage geht. Auch bei längeren Aufenthalten der Meeresschildkröten innerhalb einer Gewässerregion oder eines Archipels kann die KI mit ihrer schnellen Erkennung bei der Erfassung, Überwachung und Auswertung von Populationen nützlich sein. Um jedoch die teuren und aufwändigen Sender auf dem Panzer der Schildkröten zu vermeiden und noch viel umfangreicher die Wanderungen verfolgen zu können, bräuchte es automatische Kameraerfassungen entlang der Reiserouten – angesichts der Dimensionen der Ozeane erst einmal ein unrealistisches Unterfangen. Die Künstliche Intelligenz könnte dennoch den Durchbruch bringen, wenn die KI kontinuierlich die Bilddateien der verschiedenen Projekte, der Forschungsschiffe, lokaler Tierschützer und auch von touristischen Tauchern auswertet. Big Data ist bekanntlich keine Hürde, sondern eine Vorliebe für neuronale Netze.
Die Verknüpfung und KI-Analyse der unterschiedlichen Erhebungs- und Bilddaten, könnte den Erkenntnisgewinn deutlich skalieren. Ein Erfassungsfoto eines Schildkröten-Rehabilitationszentrums könnte zwei Jahre nach der Heilung und Entlassung einen zufälligen KI-Match mit einer, hunderte Kilometer entfernt entstandenen, Unterwasser-Aufnahme eines Tauchers ergeben und einer Ozean-Forschergruppe damit wertvolle Erkenntnisse bescheren. Vollautomatisiert, schnell und zuverlässig. Der Schlüssel ist dabei jeweils die eindeutige Re-Identifikation der Meeresschildkröte anhand ihres Gesichtes – und genau da entfaltet die Künstliche Intelligenz ihre große Stärke. Die systematische Auswertung biometrischer Daten und eine Art globale „Schleierfahndung“ ist für rechtstaatliche Gesellschaften bekanntlich eine heiß diskutierte rote Linie – in der Welt der bedrohten Schildkröten und leidenden Ökosysteme kann die Gesichtserkennungs-Technologie dagegen zahllosen Wissenschaftlern und Naturschützern wertvolle Dienstleiste leiten. Es lohnt sich daher, den Blick auf einige innovative Projekte zu werfen.
Wild Me - Wildbook for Sea Turtles
Ein spannendes, weil kollaboratives Projekt ist "Wildbook for Sea Turtles", ein Teil des Wild Me-Projekts. Wildbook nutzt maschinelles Lernen, um Bilder von Meeresschildkröten zu analysieren und individuelle Tiere anhand ihrer einmaligen Gesichtsmuster eindeutig zu identifizieren. Diese Plattform ermöglicht es Forschern weltweit, ihre Beobachtungen hochzuladen, was zu einer globalen Datenbank führt. Die Gesichtsmuster der Meeresschildkröten dienen als einzigartiger „Fingerabdruck“, der eine präzise Identifikation ermöglicht, ohne dass die Tiere physisch markiert werden müssen. Wildbook wird in verschiedenen Regionen der Welt eingesetzt, um Populationen von Meeresschildkröten zu überwachen und ihre Migrationsrouten besser zu verstehen.
Marine Megafauna Foundation
In Mosambik setzt die „Marine Megafauna Foundation“ ebenfalls KI-gestützte Gesichtserkennung ein, um Populationen von Meeresschildkröten zu überwachen. Die Stiftung arbeitet daran, die Auswirkungen des Klimawandels auf Meeresschildkröten zu verstehen und verwendet die KI-Technologie, um Daten über die Gesundheit und Fortpflanzung dieser Tiere zu sammeln. Durch die Identifikation einzelner Tiere über längere Zeiträume hinweg können Forscher feststellen, wie sich Umweltveränderungen auf die Populationen auswirken.
AI Turtle
In Australien haben Forscher des Projekts "AI Turtle" eine App entwickelt, die es auch engagierten Laien ermöglicht, Fotos von Meeresschildkröten zu machen und diese hochzuladen. Die KI-Software analysiert die Bilder, identifiziert das Tier und fügt die Informationen einer Datenbank hinzu. Dieser partizipative Ansatz trägt nicht nur zur schnelleren Datensammlung bei, sondern fördert auch das Bewusstsein in der Öffentlichkeit für den Schutz der Meeresschildkröten.
Zindi / Local Ocean Conversation
Datenwissenschaft steht im Fokus von Zindi, einer afrikaweit aktiven Plattform mit großen IT-Partnern. Um Afrika bei der Lösung von Herausforderungen zu helfen, setzt die Plattform auf Daten-Wettbewerbe und verbindet dabei Wissenschaftler, Institutionen, NGOs und Regierungen. Ein solcher Wettbewerb auf Zindi wurde von der Local Ocean Conversation aus Kenia ausgelobt. Dabei geht es um die Grundlagen für die KI-gestützte Gesichtserkennung von Meeresschildkröten. Denn wie bereits erwähnt, erhöht sich die Treffer-Genauigkeit mit dem richtigen Aufnahmewinkel und Ausschnitt. Im Rahmen der Challenge sollen Algorithmen entwickelt werden, die Bilddaten auf Ihre Tauglichkeit vorqualifizieren und dann direkt den relevanten Bildausschnitt wählen. Denn selbstverständlich entstehen viele Aufnahmen von Meeresschildkröten nicht unter optimalen Bedingungen und es besteht die Gefahr, dass ungeeignete Bilddaten die Qualität des Maschinellen Lernens der KI beeinträchtigen. Die Local Ocean Conservation möchte mit Hilfe der Wettbewerbseinreichungen zur „Bounding Box Turtle Challenge“ eine Lösung entwickeln, die in den verschiedenen von Wissenschaftlern genutzten Anwendungen und Apps so eingebunden werden kann, dass optimale Gesichtsaufnahmen der Schildkröten unterstützt werden.
UNC Center for Galapagos Studies / SAS
Das CGS setzt ebenfalls auf die KI-Gesichtserkennung von Meeresschildkröten und arbeitet dafür seit letztem Jahr mit dem US-Unternehmen SAS zusammen. Die Idee ist eine crowd-gesteuerte Künstliche Intelligenz. Im aktuellen Trainingsprozess für das KI-Modell wird daher eine App an alle interessierten und engagierten Unterstützer und Bürger ausgegeben, die damit manuell die Gesichtsmarkierungen der Schildkröten abgleichen können und so zur Qualitätssicherung beitragen. Im etwas fortgeschrittenerem Stadium des Modells soll dann ein Mix von Bilddaten ausgewertet werden: Bilder von den verschiedenen Naturschutz- und Forschungsgruppen im Archipel, aber ebenso die zahlreichen Bilder von Touristen. Ein besonderes Augenmerk des Projekts liegt auf Gesundheitsdaten. Dank der KI-basierten Identifizierung der Meeresschildkröten soll es einfacher werden einen Gesundheitsindex zu erstellen und auch Gesundheitsrisiken besser zu verstehen.
KI hebt den Natur- und Artenschutz auf ein neues Level
Die Projektbeispiele zeigen das Potenzial der Künstlichen Intelligenz beim Arten- und Naturschutz. Doch noch fehlt die wirkliche globale Vernetzung. Sobald aus einzelnen, engagierten Projekten ein gemeinsamer, offen zugänglicher, Datenbestand wird und gleichzeitig die Partizipation von Helfern und Bürgerwissenschaftlern gefördert wird, hat die KI mit ihren Stärken in der Auswertung von Big Data und ihren Fähigkeiten zur biometrischen Erkennung ein riesiges Potenzial, den Natur- und Artenschutz auf ein neues Level zu heben. Projekte wie die Gesichtserkennung von Meeresschildkröten sind dabei nur der Anfang einer neuen Ära des technologiebasierten Naturschutzes. Die Herausforderungen an die Qualität der Bilddaten scheinen in jedem Fall keine unüberwindbare Hürde zu sein. Und auch der Datenschutz ist zwar durchaus zu beachten, da ja erweitertes Bildmaterial auch von Amateuren und Touristen ausgewertet werden soll, wird aber ebenfalls eine lösbare Aufgabe sein.
Für die Schildkröten, um deren Arterhalt und die Rettung ihres Lebensraums es ja geht, bedeutet die KI-basierte Gesichtserkennung einen riesigen Vorteil: Die Methode ist nicht-invasiv und vermeidet den Stress und mögliche Gesundheitsschäden durch Markierungsarbeiten oder das Anbringen von Sendern am Panzer. Die Vorteile solcher kamera-gestützten Arbeitsweisen konnten in den vergangenen Jahren auch in Australien unter Beweis gestellt werden. Rund um Raine Island besteht die weltweit größte Kolonie von grünen Meeresschildkröten. Zur Überwachung der Population setzen die Wissenschaftler und Naturschützer dort verstärkt Drohnen ein, die von Schiffen aus gesteuert und deren Aufnahmen ebenfalls mit Hilfe der KI ausgewertet werden. Auch bei diesem Projekt der Queensland University of Technology für die Great Barrier Reef Foundation konnten die menschlichen Einsätze an den Nist-Stränden deutlich reduziert und damit die Schildkröten entlastet werden.
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